Leseprobe

Montag, 4. August 2008

Kapitel 1

Dezember

Wann kommen sie endlich? Elisabeth steht mit einem Geschirrtuch am Stubenfenster und schaut hinunter auf die Lichter des 28er Busses, die das Kopfsteinpflaster zum Glänzen bringen. Kein Fahrgast. Heiligabend. Armer Fahrer.
Auf der Fensterbank hinterlässt Elisabeth eine Mehlspur. In der Küche strömen hohe Knabenstimmen aus dem Radio und Butterplätzchen duften nach Vanille. Noch liegt etwas Teig im Kühlschrank. Mag Kevin helfen und einige Herzen ausstechen?
Im Wohnungstürschloss klickt es.
„Lass mich erst mit dem Baum vorbei“, hört Elisabeth ihren Sohn Thomas sagen, „dann kannst du zu Oma, Kevin. Kevin!“
Kinderstiefel trampeln über den Flur. Kevins Arme umschlingen ihren Bauch. Elisabeth hebt das Geschirrtuch in die Luft, um den braunen Schopf ihres Enkels nicht einzumehlen.
„Es ist Weihnachten, Oma!“ Dabei hüpft er auf und ab. Elisabeth möchte am liebsten mithüpfen, aber schon betritt Heike die Küche. Sie schenkt Elisabeth ein erschöpftes Lächeln und wickelt ihren Sohn aus dem offenen Anorak. Das arme Mädchen arbeitet zu viel. Nicht einmal zum Friseur kommt sie, wie erkennt Elisabeth am Rest der Dauerwelle.
Kevin stürzt zum Kühlschrank.
„Wir backen jetzt die besten Plätzchen der Welt.“
Elisabeth ist glücklich.

Thomas schleppt den Fuß der Tanne. Nach einem kurzen Winken in die Küche geht er gleich weiter in die Stube. Die Spitze trägt Alexandra. Nicht einmal durch ihr langes Haar wirft sie Elisabeth einen Blick zu. In der Pubertät sind Omas anscheinend das letzte, mit dem man seine Zeit verbringen will; das hat Elisabeth verstanden. Dabei müssen sie und ihr kleiner Bruder das jeden Tag. Bei Elisabeth essen sie zu Mittag und machen ihre Hausaufgaben - zumindest Kevin. Bis Heike vom Büro kommt, kriecht er in seine Comics oder ein Buch. Die Bauklötze liegen schon lange in dem halben Regal, das Elisabeth ihnen frei geräumt hat. Auch die Spielzeugautos verstauben immer öfter. In der anderen Hälfte findet man nur ein paar zerfressene Bravos. Elisabeth erinnert sich noch an Barbies und anderen Puppen. Zusammen kämmten sie die blonden und schwarzen Locken und zogen sie an, aus und um. Elisabeth nähte sogar neue Kleider, alles mit der Hand. Heute sitzt Alexandra meistens mit Schmollgesicht mit ihrem Handy auf der Couch und sagt kaum ein Wort. Manchmal formt ihr Mund beim Blick auf den kleinen Bildschirm ein Lächeln, aber wenn sich ihr und Elisabeths Blick finden, zieht sie ihre Augenbrauen wieder zusammen und schiebt ihre Unterlippe vor sich her. Das ändert sich nur, wenn ihre Freundinnen anrufen. Zuerst bemühte sich Elisabeth, die Namen zu behalten, aber Alexandra beantwortete irgendwann ihre Fragen nach Jana, Kira und Steffi nicht mehr, sondern warf ihre Haare herum und schmiss sich wieder die Couch, als wäre es eine Insel, zu der niemand sonst Zutritt hat. Kevin lässt sie sowieso in Ruhe. Mädchen sind langweilig. Der große Teppich mit dem gelb-schwarzen Muster ist ihm Recht für alles von Playmobil bis zum Comicschmökern. Sicher würde er auch liegend Hausaufgaben machen, aber nach Elisabeths Bitten setzt er sich an den Küchentisch; Alexandra bleibt auf der Couch und verteilt ihre Hefte und Bücher darauf. Sie schreibt auf den Knien.

Tannenaroma zieht durch die Wohnung und Heike holt die Kartons und Tüten mit dem Baumschmuck aus dem Keller. Erst danach drückt sie ihre Wange kurz an Elisabeths. Thomas betritt sich die Hände reibend die Küche, nachdem er den Baum in den Ständer gedrückt hat. Er trägt den Pullover, den sie ihm vor kurzem von ihr zum Geburtstag geschenkt hat. Dunkelblau steht ihm gut.
„Schön dass ihr da seid“, sagt Elisabeth.
„Es ist doch immer wieder schön“, sagt Thomas und legt seinen Arm um ihre Schulter. Rasierwasser findet ihre Nase. Sie möchte seine rasierte Wange streicheln, aber ihre Hände sind schon wieder voller Mehl. Kevin steht mit einer Rüschenschürze vor dem Bauch auf einem Hocker und drückt mit rotem Kopf und ganzer Kraft die Herzform in den Teig. Alexandra ist in der Stube geblieben. Sicher setzt sie sich erst auf die Couch und wechselt ungeduldig auf Hannes’ Sessel am Fenster, wo sie auf die Fensterbank trommelt, um die Zeit bis zum Schmücken, bis zu den Geschenken, bis zum Essen und bis zum Ende des Heiligabends zu überbrücken. Elisabeth bleibt deshalb lieber in der Küche, so lange es geht. Sicher haben Heike und Thomas ihrer Tochter für heute Abend eingebläut, dass sie nett zur Oma sein solle. Elisabeth möchte ihr helfen. Bei den Geschenken wird es schon schlimm genug für sie. Der Oma danke sagen und das mit einem Kuss zeigen, muss die Hölle sein. Dabei war es früher doch so anders. Seit Kevin zur Schule geht und mittags auch zu ihr kommt, ist Elisabeth nicht mehr ihre Beste.

Die letzten Plätzchen schiebt Kevin mit einem Topflappen in den Ofen. Elisabeth spült die Ausstechförmchen ab und wischt die Arbeitsplatte. Kevin wischt mit seiner Schürze hinterher. Danach stibitzt er ein handwarmes Plätzchen und rennt in die Stube.
Es klingelt an der Tür. Gabriele ist sechs Jahre älter als Thomas. Sie hat ihren Schlüssel gleich nach ihrem Auszug abgegeben. Bei ihr musste immer alles seine Ordnung haben. Nach dem hervorragenden Schulabschluss ging sie natürlich in eine Bank. Nichts Anderes kam für sie in Frage. Es war auch klar, dass es nicht dabei blieb. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann Stephan in Hamburg. Wenn die beiden von ihrer Arbeit erzählen, kommen sicher auch Heike und Thomas nicht mehr mit. Elisabeth genügt es zuzuhören. Das Summen ihrer Stimmen beruhigt sie, auch wenn sie oft nicht begreift, worum es überhaupt geht. Dann weiß sie, dass alle gesund sind und dass ihre Muttersorgen völlig unnütz sind. Hannes hat sie ihr diese früher mit einem scharfen Satz zerrissen, aber das tut er nicht mehr, auch wenn sie immer wieder in seiner Graberde herumhackt. Alpenveilchen und Erika hat Elisabeth im November gepflanzt und sie letzte Woche vom Efeu befreit. Die Frau, die neben ihr das Grab pflegt, nickt oft zu ihrem Stein. Ihr Mann liegt darunter. Er spreche mit ihr, sagte sie an einem Sonnentag. Hannes war immer schweigsam lang und außerdem schmal und diese traurigen Augen. Was war es schön, wenn er lachen musste. Seine Lider zuckten dabei, als wären sie überrascht. Lange her.

Elisabeth öffnet die Tür. Stephans Haarkranz leuchtet ihr entgegen. Gegen Gabriele ist er ziemlich füllig. Sie hat ihre blonden Strähnen wieder zu einem dünnen Zopf gebunden. Das macht sie so streng wie sie ist, zu sich, zu anderen, wie Stephan gern am Telefon erzählt, wenn sie nicht da ist. Die feinen Haare hat sie von Elisabeth geerbt, das blasse Gesicht auch, aber Gabriele trägt darin einen dunklen Lippenstift. Damit beeindruckt sie ganz bestimmt die Angestellten in der Bank. Elisabeth ist stolz auf sie.
Stephan überreicht ihr einen Weihnachtsstern und Gabriele beugt sich zu kurz zu ihr herunter und deutet über ihrer Schulter einen Kuss an, der irgendwo in der Luft landet. Elisabeth hat nicht einmal den Hauch ihrer Wange gespürt, aber Hauptsache: Sie sind alle da. Stephan nimmt sie richtig in die Arme und hebt sie sogar hoch. Beide lachen. Er riecht noch besser als Thomas: süß und nicht so herb, wie ein Parfum.
„Unsere Lisbeth! Gut siehst du aus.“
Gabriele läuft bereits mit der Tüte voller Geschenke voran in die Stube. Nur für die Kleinen gibt es noch Geschenke. „Wir haben heute doch alles, was wir brauchen“, sagte sie vor einigen Jahren. Es dauerte ein paar Jahre, bis Elisabeth das begreifen wollte, aber jetzt gefällt es ihr. Natürlich hat Gabriele Recht. Was soll Elisabeth ihnen schon schenken? Die Geburtstage müssen eben genügen.
Sie überlegte die letzten Tage jedoch, ob sie nicht vielleicht doch den schönen Puter für den 1. Weihnachtstag hätten kaufen sollen, den ihr Frau Pressnitz von nebenan angeboten hatte. Ihr Sohn züchtete die Tiere extra für Weihnachten. Schön mit Klößen und Rotkohl – das hätte für die ganze Familie gereicht. Wahrscheinlich wären Heikes Eltern beleidigt gewesen, bei denen sie am Tag drauf eingeladen ist, wie jedes Jahr – seit Hannes’ Tod.

Elisabeth kümmert sich um das Abendessen.
„Du sollst dir nicht so viel Arbeit machen“, sagen die Kinder immer wieder. Also gibt es Kartoffelsalat und Würstchen. Den Salat hatte sie schon gestern gemacht: mit Speck und Zwiebeln, so wie es Thomas am liebsten mag. Bis heute konnte er gut durchziehen.
Gabriele und Stephan lassen sich am Küchentisch nieder. Die Tochter stellt das Radio ab und packt ihre Zigaretten aus.
„Man kann sich so schlecht bei schmalzigen Kinderchören unterhalten“, sagt sie.
Elisabeth freut sich jedes Jahr wieder auf ihre hohen Stimmen vor Weihnachten und erinnert sich an ihren damaligen Schulchor. So gut sangen sie zwar nie, aber manchmal gab der Leiter ihr sogar ein Solo. Heute singt sie nicht mehr, sondern holt die Schüsseln mit dem Kartoffelsalat aus dem Kühlschrank und wuchtet einen Topf mit Wasser auf den Gasherd. Gabriele steht auf und zerstampft ihre Zigarette im Aschenbecher.
„Mama, du sollst doch heute nicht arbeiten.“ Sie bläst den Rauch in die Luft wie eine Lokomotive. Stephan grinst sich eins hinter ihrem Rücken und zwinkert Elisabeth zu. Noch bevor Gabriele sich wieder setzen kann, nimmt Elisabeth ihre Hand und streichelt sie.
„Danke, meine Große. Du meinst es gut, aber das ist das einzige, was ich für euch tun kann. Lass mich man!“
Gabriele setzt sich wieder.

Alexandra stürmt herein.
„Oma, kann ich dir helfen?“
„Danke, Liebchen. Alles ist im Werden“, sagt Elisabeth und hebt die Hand zum Gesicht ihrer Enkelin. Alexandra bleibt still stehen. Sie schafft sogar ein Lächeln, als Elisabeths Handrücken über den Wangenflaum gleitet. Dann springt sie wieder davon.
„Ihr müsst kommen. Der Baum sieht toll aus“, ruft sie bereits vom Flur aus. Für Elisabeth ist Weihnachten.
Die Eieruhr für die Plätzchen klingelt. Elisabeth greift zu den Topflappen.
„Geht ihr vor. Ich komme gleich nach.“
Gabriele drückt ihre Zigarette aus.

Elisabeth ist der Baum viel zu riesig. Die unteren Zweige drücken in die Heizungslamellen und in den in die Ecke gedrückten Sessel. Auf der Spitze thront Elisabeths alte Silberspitze mit angedeutetem Schnee. Darunter hängen einige ihrer alten Kugeln. Sie spiegeln sich in Altrosa. Darunter findet Elisabeth neue in dunklem Rot mit Goldglitzer. Eine goldene Girlande liegt auf den oberen Zweigen. Sie weiß, dass Thomas den alten Baumschmuck nur für sie hineingehängt hat. Dabei haben ihr Lieben letztes Mal gefragt, ob sie auf ihre Kugeln bestände. Sie wundert sich und lächelt trotzdem, weil alle lächeln. Nur Alexandra verdreht die Augen.
„Schön, Mama, nicht wahr?“, sagt Thomas.
Sie nickt.
„Wer hilft mir beim Tischdecken?“
Heike, Alexandra und Gabriele stehen auf der Stelle vor ihr.
„Ihr wisst ja, wo alles ist.“
Elisabeth geht wieder in die Küche, nimmt Bierflaschen aus dem Kühlschrank. Ihr fällt ein, dass sie den Weißwein für Gabriele vergessen hat. Ihre Familie beruhigt sie. Sie müsse sowieso fahren. Ist sie nicht nachtblind? Elisabeth wundert sich.

Wegen der Kinder machen sie die Bescherung vor dem Essen. Gabriele überreicht Alexandra einen knallroten Pullover und ist einmal mehr die Lieblingstante. Kevin bekommt von ihr Bücher über Vulkane und Pflanzen. Lernen war für sie immer wichtig. Elisabeth konnte ihr nie alle Bücher kaufen, die sie sich damals gewünscht hat.
Die Eltern schenken ihrer Tochter einen eigenen Computer, zwar gebraucht, aber immerhin. Alexandra will sofort sehen, welche Programme er hat. Ihre Mutter bringt sie zu einem kurzen Schweigen. Sauer knüllt Alexandra das Geschenkpapier zusammen. Ihre Wangen spannen sich. Sie wird mit denen Zähnen knirschen, vermutet Elisabeth. Der Papierball fliegt in den Weihnachtsbaum. Alle halten den Atem an. Die elektrische Lichterkette schwingt hin und her; dann fällt sie Zweig für Zweig hinunter. Zwei rosa Kugeln lösen sich, kullern über die Nadeln und zerschellen auf dem Teppich.
„Gut, dass dies das letzte Weihnachten hier ist“, zischt Alexandra.
Gabriele wirft einen erschrockenen Blick zu Thomas, Thomas zu Heike. Kevin klatscht sich die Hand vor den Mund. Stephan räuspert sich. Erst jetzt wandern Elisabeths Augen um den Tisch herum. Keiner schaut sie an. Keiner bewegt sich. Nur Alexandras blondes Haar schwingt links und rechts ihres Gesichts wie ein gerade aufgezogener Vorhang. Dazwischen zittert eine Unterlippe, bis es schneller nicht mehr geht. Das Mädchen springt auf, über den Schoß ihrer Mutter. Die Tür des Badezimmers knallt. Der Ton hallt durch die Stille der Stube.
Elisabeth spricht so, als müsse sie ihre Stimme erst wieder finden.
„Das letzte?“
Wieder gehen Blicke reihum. Kevin zieht den Kopf ein; alle anderen auch. Nur Gabriele streckt ihren Rücken.
„Thomas nimmt einen Job im Süden an.“
Wortlos legt Elisabeth ihrem Sohn eine Hand auf das schwarze Hosenbein.
„Sonst wäre ihm vom Werk gekündigt worden“, fügt Gabriele hinzu. Sie konnte immer alles am besten erklären, sogar ihrem Bruder den Dreisatz. Sicher weiß er ihn heute noch.

Thomas schaut auf Elisabeths alte Hand, die immer wieder über den Stoff reibt. Sie wird warm. Er nickt nur.
„Wir wollten dir den Heiligabend nicht verderben“, sagt Gabriele und greift zu Zigarettenschachtel.
Heike steht auf.
„Ich nehm’ die Würstchen aus dem Wasser. Sonst platzen sie.“
„Tu sie auf den langen Teller“, sagt Elisabeth, „Ach, das weißt du ja. Ihr wisst ja alles.“
Thomas legt ihr seine große Hand auf den Rücken und reibt im Kreis. Kevin drückt sich neben sie und streichelt die Falten auf ihrer Hand.
Thomas muss husten.
„Ich wäre auch lieber geblieben.“
„Und ich erst“, mault Kevin.
Elisabeth umschließt die kleine Hand. Sie hört das Klappern aus der Küche. Es ist selten, dass jemand dort wirtschaftet, wenn sie nicht dabei ist. Hannes ist es im Traum nicht eingefallen. Elisabeth riecht Gabrieles Zigarette; die gleiche Marke wie Hannes zuletzt. Früher hat sie diesen salzigen Dunst gehasst. Jetzt ist sie manchmal froh, wenn Gabriele zur Schachtel greift. Sie hat sogar eine Schachtel im Schrank liegen, falls Gabriele ihre vergessen hat. Aber davon weiß die Tochter nichts. Elisabeth fährt immer wieder über den weichen Stoff von Thomas’ Hose. Er wärmt ihre Finger. Kevin reibt ihre andere Hand. Die aufliegenden Adern bilden noch mehr Falten. Seine Finger sind zu kurz. Sie bleibt kalt. Zwei Tränen fließen an Elisabeths Brillengläsern vorbei, bis sie in den Mundwinkel verschwinden.
Elisabeth hört Stephan aufstehen. Er schleicht über den Flur und klopft an die Tür des Badezimmers. Sicher öffnet sie ihm. Er kommt mit jedem klar. Ein guter Vater wäre er geworden, aber Gabriele wollte keine Kinder. Elisabeth fragt sich oft, ob sie früher bei ihr etwas falsch gemacht hat. Familie und Kinder sind so etwas Schönes. Zumindest dachte Elisabeth, das hätte sie Gabriele mitgegeben. Ihre eigene Mutter hatte es schwer und war oft krank. Elisabeth half, wo es ging, kam sich selbst wie eine Mutter vor, wenn sie ihren kleinen Bruder ins Bett brachte. Das hörte jedoch auf, als Vater betrunken und spät nach Hause kam und noch einmal zu jedem einzelnen ans Bett ging, um ihm Schlaflieder vorzusingen. Mutter schlief darüber ein, aber die Kinder fürchteten sich. Heute ist der Kleine schon tot und die anderen sind weit fort. Weit fort. Weit fort war bisher nur Gabriele. Als Hannes noch lebte, konnten sie mit dem Auto zu ihr fahren. Nun muss Elisabeth warten, bis sie und Stephan sich zum Kaffee oder Mittag anmelden. Besonders wohl hat sie sich in Gabrieles Wohnung bisher nie gefühlt, jedoch nie ein Wort darüber verloren. Die Aussicht auf den Hafen ist wunderschön, aber weiße Ledersofas und weiße Teppiche? Ist das gemütlich? Wie hält man das sauber? Die arme Putzfrau. Aber die beiden können sich das leisten. Hamburg ist ein anderes Pflaster.
Anderes Pflaster. Nun verlässt auch Thomas die Stadt. Keine Kinder mehr, keine Ausflüge an Sonntagen, kein Kuchenbacken, kein Kochen für die hungrigen Mäuler am Mittag, kein Kaffee mit Heike oder Thomas, wenn sie abends die Kinder abholen. Aber wenn es doch nötig ist. Thomas hat schon öfters bedrückt vor seiner Tasse gesessen und von einem gekündigten Kollegen erzählt. Bis jetzt hat er Familie schützen können. Nun hat es ihn getroffen. Da muss man froh sein, wenn man woanders eine Stellung bekommt. Da kann er keine Rücksicht auf seine Mutter nehmen. Natürlich nicht. Über die Runden muss man kommen. Das wird heute immer schwieriger bei dem, was heute erwartet wird: vom Chef, von der Frau, von den Kindern. Der arme Junge. Besser sie sind da unten glücklich als hier arbeitslos. Von Heikes Büroarbeit können sie nicht leben. So muss es wohl sein. Alexandra wird es dort besser gehen. Sie muss nicht mehr so böse sein. Kevin wird es auch schaffen. Alle werden es schaffen. Alle.
„Habt ihr schon eine Wohnung?“, fragt Elisabeth mit dem letzten Tränensalz auf der Zunge. Ihre Lider heben sich ruhig hinauf zu Thomas. Das konnte sie auch bei Hannes’ Tod – vielleicht schon immer.
Thomas drückt ihre Schulter, wie sie es früher immer bei ihm tat, wenn sein Knie blutig aufgeschlagen war und er schluchzend auf ihrem Schoß saß.
„Ja, 5 Zimmer. Das Werk hat uns unterstützt.“
„Gut.“ Elisabeth klopft noch einmal über sein Bein und streicht Kevin über den Kopf.
„Lasst uns essen! Sonst werden die Würstchen kalt.“

Am Weihnachtsbaum hängen einige Kugeln schräg. Die gefallenen hat eins der Kinder aufgefegt und weggeworfen, als Elisabeth auf Toilette war. Danach ist der Tisch gedeckt. Jemand hat die Papierservietten sind zu Hütchen aufgestellt.
Das Essen verläuft still bis auf Stefans Versuch die Stimmung mit Witzen zu heben. Elisabeth lacht, Alexandra auch. Gabriele meint, so könne man doch nicht essen. Es bleibt viel Kartoffelsalat übrig. Jeder bekommt eine Plastikschüssel mit nach Hause. Die Würstchen kann man kalt essen.
Die Töchter räumen und waschen ab. Die Söhne wollen Elisabeth in ihren Sessel drücken, aber sie besteht darauf, sich um den Baum zu kümmern. Sie nimmt die altrosa Kugeln ab, an die sie herankommt. Die anderen muss Thomas abpulen, auch die Spitze. In Heikes Kartons findet sie noch mehr dunkelrote Kugeln, kleine Holzmännchen und Strohsterne. Bevor Elisabeth sie mit Kevin verteilt, wickeln Thomas und Stephan die Lichterkette wieder vernünftig um den Baum herumwickeln. Kevin drückt sich an Elisabeth und legt die Männchen neben ihre Strohsterne. Die zieht sie danach immer wieder ein Stück auseinander.
„Das Männchen muss auch ohne seinen Stern auskommen können“, sagt Elisabeth und drückt Kevins Schulter.

Als sie alle wieder um den Tisch sitzen, fällt Elisabeth ein:
„Ich habe ja noch etwas für euch.“
„Wo soll ich suchen, Mama?“, fragt Gabriele und drückt eine halbe Zigarette aus.
„Nein Kind, ich mach das schon“, sagt Elisabeth und quetscht sich an den Beinen vor dem Sofa vorbei.
Kevin schenkt sie einen Schulrucksack. Das hat sie mit seinen Eltern abgesprochen. Er ist begeistert von den vielen Fächern. Sogar eine Federmappe ist dabei.
Alexandra überreicht sie ein Kuvert mit einem Einkaufsgutschein.
„Ich denke, damit kannst du mehr anfangen als mit allem, was ich dir schenken kann.“
Alexandra sagt danke und umarmt Elisabeth so umständlich, dass sie rot wird. Alle lachen darüber. Alexandra lacht mit.
Noch im letzten Atemzug des Lachers setzt sich Gabriele auf.
„Stephan, gehst du bitte zur Garderobe und bringst mir meine Tasche?“
In schimmerndem Weihnachtspapier mit goldener Schleife wandert ein Karton durch viele Hände und zum Schluss auf Elisabeths Schoß.
„Ihr sollt mir doch nichts schenken“, beschwert sie sich. Die Kinder sind wieder still, so still vor vorhin. Gabriele übernimmt das Kommando.
„Wir wollen, dass du uns immer erreichen kannst, egal wo du bist.“
„Ja“, sagt Thomas, „du kannst uns damit im Supermarkt einkaufen und Heike gleichzeitig nach den Zutaten für ihren griechischen Salat fragen.“
Elisabeth zieht an der Schleife. Ein Handy. Aber warum soll sie damit Heike nach dem Rezept fragen? Für wen soll sie den Salat machen? Dieser Schafskäse ist ihr viel zu salzig. An Oliven kann sie sich nie gewöhnen. Sie mag lieber Kopfsalat mit Zitronensaft und ein bisschen Zucker. Sicher ist das genauso gesund. Darauf achtet man heute eben. Damals reichte noch das Sattwerden.
Elisabeth bedankt sich brav.
Den ganzen Abend erklären sie ihr alle die neue Errungenschaft mit der Batterie, die heute Akku heißt, dem Telefonbuch im Handy, SMS. Davon hat sie schon von Alexandra gehört. Es gibt Kurzwahltasten und unterschiedliche Klingeltöne. Elisabeth lächelt dazu.

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